Bericht vom Raid Provence Extreme über 620km und 8950 Höhenmeter

Nervosität schon im Vorfeld
Das Rennen
Fiktiver Start und 2 Stunden Bummeln
Echter Start zum 80km-Rennen?
Chaos an der Kontrollstation
Der Mont Ventoux - Berg des Leidens
Sommet de Lure - die Nacht bricht herein
Endlich geht's "aufwärts"
Ärger und Tempoverschärfung
Probleme mit der Beleuchtung
Der Grand Canyon du Verdon
Es wird Tag!
Tempobolzen am Morgen
21% am Côte de Sainte Anne
Noch 80 km
Panik!
Endlich im Ziel
Erholung und Ausflüge
Die Rückfahrt
Es geht aufwärts...
... und dann abwärts

Nervosität schon im Vorfeld

Nach den 24h am Nürburgring letztes Jahr hatte ich Blut geleckt – sowas wollte ich öfter machen. Auf der Suche nach vergleichbaren Veranstaltungen fiel meine Wahl auf das RPE in der Provence, das 2005 zum 2. Mal ausgetragen werden sollte, nachdem Wolfgang Fasching das erste Mal gewonnen hatte. Viele andere Möglichkeiten gab es nicht, da die meisten anderen Langstreckenrennen (Race Across the Alps, Glocknerman...) nur mit Begleitfahrzeug möglich waren, und darauf hatte ich weder Lust noch wollte ich irgendwem zumuten, einen Tag oder noch länger hinter mir herzutuckern.

Mein Vereinskollege Stefan Lau hatte sich bereits aus ähnlichen Gründen beim RPE angemeldet – ich würde also schon mal nicht ganz allein sein unter den knapp 50 erlaubten Langstreckenspezialisten...

Je näher der Termin rückte, desto nervöser wurde ich. Meine Hauptbefürchtung war, wegen irgendwelcher technischer Probleme allzuviel Zeit auf die Konkurrenten, vor allem auf die mit Begleitfahrzeug (die Mehrzahl) zu verlieren. Im Gegensatz zum Nürburgring fuhr man in der Provence ja auf normalen Straßen, und zwischen den 8 oder 9 Kontrollpunkten alle 60-120 km würde ich völlig auf mich gestellt sein. Ich bombardierte den Veranstalter Patrick François mit Emails, der zusagte, dass persönliche Päckchen mit Nahrung und Klamotten zu den Stationen gebracht würden, so dass man immerhin nicht alles mit sich herumschleppen musste. Nächtelang schraubte ich am Rad herum, baute eine Kompaktkurbel und einen Aero-Aufsatz dran, für die An- und Rückreise einen Gepäckträger, tauschte die Laufräder, besorgte neue Reifen, kaufte Flüssignahrung in rauhen Mengen, ein starkes zusätzliches Licht und und und... Ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Als das wichtigste Utensil erwies sich später ein auf den letzten Drücker entdecktes winziges LED-Lämpchen, mit dem ich nachts die Roadmap, auf der alle die vielen Abzweigungen und Straßenkreuzungen vermerkt waren, beleuchten konnte. Den Schlafentzug hatte ich damit schon mal trainiert!

Rein körperlich fühlte ich mich ganz gut gerüstet. Ich hatte das Trainingspensum in den Monaten und Wochen bis kurz vorher kontinuierlich erhöht: immer abwechselnd Kraftausdauerfahrten von 2-4 Stunden hart am Limit und lange Fahrten am Wochenende, zuletzt 320 + 430 km an zwei aufeinanderfolgenden Tagen tief hinunter in Pfalz und Elsass, die richtig gut gelaufen waren. Das war ja schon mehr als die Renndistanz, wenn auch in immerhin 40 Stunden.

Es hatte zwar viel Mühe gekostet, aber ich hatte Reni überreden können, mit nach Frankreich zu kommen, mit der Aussicht, während des Rennens selbst ein bißchen radfahren zu können und hinterher zusammen mit mir per Rad ein gutes Stück nach Hause zu fahren, so dass man das Ganze mit Müh und Not als "Radreise" durchgehen lassen könnte. Reni dazu: "Wenn Cosmas französisch zu sprechen versucht, verzieht er Nase und Mund derart, dass er aussieht wie ein Fall von einseitiger Gesichtslähmung. Aus Rücksicht auf die deutsch-französischen Beziehungen bin ich deshalb mitgekommen."

Für Patrick François war allein das schon eine Meldung auf der Veranstaltungs-Homepage wert: dass jemand mit der Bahn anreiste und sogar einen Teil mit dem Rad, fand er "extrêmement courageuse" und verklärte das, typisch französisch, zu "une belle ballade pour des amoureux" (http://www.velo-concept.com/?pg=articles&rub=6&cat=17&id=962).

Bei der bequemen, größtenteils mit Essen verbrachten Anreise stellte sich dann heraus, dass wir mit dem Zug sogar weiter als gedacht an Saint Remy herankamen, es blieben nur noch rund 120 ziemlich flache km zu fahren – optimal als Vorbereitung, zumal wir die auf 2 Tage aufteilten, so dass sogar noch etwas Zeit zum Sightseeing blieb. Die Erfahrung, den leichten Renner als Reiserad mit Gepäckträger und Taschen zu verwenden, war neu und besser als erwartet; störend war nur, dass ich aus Sorge um die empfindlichen Schlauchreifen die Seitenstreifen nicht benutzen konnte (was in Frankreich keinen einzigen Autofahrer störte), und dass ständig irgendwelche Jugendlichen lauthals das Rad bestaunten, die noch nie ein Reiserad mit Carbon-Laufrädern gesehen hatten...

Leider bekam ich in Saint Remy dann auch nicht mehr viel Schlaf, denn zu unserem Schock eröffnete uns Patrick bei der Versammlung am Abend vor dem Rennen, wo wir auch Stefan und Heike trafen, dass es keinerlei Beschilderung der Strecke geben würde, die Roadmap also nicht nur als Hilfe dienen würde, sondern die alleinige, ständig zu konsultierende Orientierungsmöglichkeit darstellte! Nach dieser Nachricht verbrachte ich noch einige Stunden in unserem Privatzimmer mit Kartenstudium, um besonders kritische Stellen in der Roadmap zu markieren; der Tag vorher war zum guten Teil zum Päckchen-Machen für die Kontrollstationen draufgegangen: wo brauche ich die warme Jacke – schon am Ventoux oder erst am Sommet de Lure? Wie verteile ich die Energie-Gels? Nehme ich das Licht direkt mit, oder hinterlege ich es für die Nacht?

Letztere Frage entschied sich von selbst, da ich vor lauter Konfusion vergessen hatte, den Akku des Scheinwerfers vor dem Abgabetermin wieder aufzuladen, obwohl wir ja auf dem Hinweg schon mal abends gefahren waren. Damit war klar, dass ich die 400g mehr halt den Ventoux hochschleppen müssen würde; jedenfalls besser, als mitten in der Nacht ohne Licht dazustehen.


Das Rennen

Fiktiver Start und 2 Stunden Bummeln

Die Zeit vor dem Start dehnt sich ziemlich; wir hängen mit Stefan und Heike zusammen draussen vor La Fabrique, dem Startort, herum, und können kaum erwarten, dass wir endlich radfahren dürfen. Ich bin erstaunt, dass Stefan keinerlei "Päckchen" gemacht und in letzter Minute eine eher provisorische Beleuchtung an sein Wettkampfrad montiert hat, statt – wie noch gestern geplant – für die Nacht sein extra nach Frankreich mitgenommenes Zweitrad mit Nabendynamo zu nehmen. Heike soll ihn an ein, zwei Punkten des Rennens treffen und mit dem Nötigsten versorgen, ansonsten verlässt er sich, was die Verpflegung angeht, auf die Stationen, während ich Unmengen von Riegeln, Gels und selbstgemischtem Maltodextrin-Pulver entlang der Strecke verteilt habe. Bis zuletzt war nämlich nicht herauszufinden, was genau es denn überhaupt zu essen und trinken geben würde, da bleibe ich lieber bei meiner eigenen Ernährung. Stefan hat seine Ambitionen aber ohnehin zurückgeschraubt, da er dieses Jahr kaum zum Trainieren gekommen ist; seine längste Trainingsstrecke war gerade mal 220 km! Wolfgang Fasching kommt kurz vorbei und tauscht Artigkeiten mit Stefan aus. Heute morgen hat er ein Rad mit Lightweight-Laufrädern, gestern war es eins mit Xentis-Flügelrädern, die wohl für den flachen Teil am Ende reserviert sind? Der unbestrittene Star des Rennens sieht unauffällig aus, man sieht ihn kaum in der Menge, dann ist er schon wieder auf der Straße, rollt ein bißchen, da ihm das Herumsitzen hier wohl nicht liegt. Noch mehrere bekannte Namen sind da: Dominique Briand, Daniel Wyss, Valentin Zeller. Nur unser österreichischer Spezi vom Nürburgring fehlt; kommt er wieder mal zu spät? Endlich, um 12 Uhr, Samstag, den 21.5., geht es los – aber ein echter Rennbeginn ist das noch nicht. Uns war bekannt gewesen, dass es die ersten 45 km geschlossen hinter einem Führungsfahrzeug hergehen sollte, aber der Fahrer weiss wohl nicht viel über's Radfahren: er fährt über alle Hügel und Abfahrten mit dem gleichen, niedrigen Tempo. Man kann nett plaudern, aber mir scheint, ich fahre meine Bremsgummis bis zum "echten" Start schon fast ab (zum Glück eine Täuschung). Dazu kommt noch, dass es mehrere recht abrupte Halts auf offener Strecke gibt, ohne dass zu erfahren ist, warum. Die Leute an der Strecke werden sich etwas über die Gruppe pinkelnder Radfahrer mit Begleitfahrzeug gewundert haben. So brauchen wir fast 2 Stunden für die 45 km zum Fuss des Col de Murs, wo dann noch einmal Warten angesagt ist, da hier die Begleitfahrzeuge der unterstützten Fahrer warten und alle vor dem echten Start nochmal Flaschen und Riegel, Fasching auch gleich mal ein anderes Rad gereicht bekommen – ausser uns paar Einzelkämpfern, die in der Sonne rumstehen und niemanden zum Nachfüllen haben. Mir wird schmerzlich bewusst, dass ich zwar für die Stationen unterwegs gut vorgesorgt habe, ausgerechnet für den ersten langen, heissen Teil bis zum Ventoux aber mit 2 kleinen Riegeln und 2 Trinkflaschen viel zu wenig dabei habe – wieso habe ich daran nicht gedacht? Stefan geht es natürlich auch nicht besser, aber der kommt ja sowieso immer mit fast nichts aus.

Echter Start – zum 80km-Rennen?

Dann der reelle Start – und ich frage mich, ob wir vielleicht aus Versehen bei einem 80km-Rennen gelandet sind? Es geht den ersten Pass, den Col de Murs, komplett am Anschlag rauf. Vorne Fasching mit 3, 4 weiteren, dahinter ein dichtgedrängtes Feld. Mit 30, 35 Sachen jagen wir die wenigen Serpentinen hoch, instinktiv bleibe ich mit Stefan dran, frage mich aber, wie das weitergehen soll. Ich hatte mir eigentlich vorgestellt, das Rennen wie im Training möglichst gleichmäßig zu fahren, Puls 130 bis 150 – und jetzt habe ich schon über 180! Okay, wenn das dazu dient, den Rest gleich jetzt abzuhängen... Aber als ich mich umschaue, ist noch ein Riesenpulk hinter uns! Das hier ist nicht der Nürburgring, das sind doch Fahrer von anderem Kaliber. Eine kurze Abfahrt – ich werde erstaunlicherweise nicht abgehängt –, dann kommt gleich der nächste, diesmal längere Anstieg zum Col de la Ligne auf 805m. Das gleiche Spiel, aber diesmal doch schon mit deutlich reduzierter Anzahl. Wir bleiben in der Führungsgruppe von 12-15 Mann, doch es ist absolut kein Unterschied zu einem harten Lizenzrennen auszumachen; es setzen sich sogar 2 Italiener kurz ab, worauf das Tempo nochmals anzieht, bis sie wieder eingefangen sind. Sind die noch ganz dicht???

Chaos an der Kontrollstation

Oben auf der Kuppe ist die erste, verpflegungslose Kontrollstation, an der, wie uns Patrick ermahnt hat, alle der Reihe nach auf einer Liste unterschreiben müssen – es bricht das blanke Chaos aus. Von Disziplin keine Spur, dem "Patron" Fasching macht natürlich niemand den Platz an dem schmalen Tisch streitig, aber an Stefan und mir drängt sich alles rücksichtslos vorbei. Wir sind so überrumpelt, dass wir uns nicht groß wehren, ich weiche eher noch zurück, bevor mir einer fast seine Pedale in die Speichen rammt. Als wir endlich an der Reihe sind, ist der ganze Haufen schon abgedüst, wir bleiben mit einem weiteren Leidgenossen zurück, fahren dann etwas desillusioniert die eigentlich schöne Abfahrt runter. Als es flacher wird, rauschen die Begleitfahrzeuge an uns vorbei, und von nun an beginnt das eigentliche, unser Rennen, denn von der Gruppe vor uns sehen wir sehr schnell keine Spur mehr. Egal, das Radfahren macht Spaß! Wir genießen die tolle Landschaft, fahren mit gutem Tempo die Gorges de la Nesque entlang ins Flachland herunter, wo es zunehmend heisser wird und bereits das Wasser knapp wird. Stefan wundert sich, dass ich so gut die Abfahrten runter gekommen bin, und ich selbst wundere mich ebenfalls, auch darüber, dass ich nach diesem rasanten Auftakt in der Ebene dank meines Aerolenkers doch ganz flott vorankomme. Einige Kilometer vor dem Ventoux wird unserem Kompagnon die Geschwindigkeit zu hoch, und wir sind nur noch zu zweit.

Doch dann, nachdem bei 130km endlich die erste Verpflegungsstelle in Malaucène erreicht ist, wo Reni und Heike schon auf uns warten, um uns aufzumuntern, merke ich am Ventoux, dass es doch ein bißchen zu schnell war...

Der Mont Ventoux – Berg des Leidens

Ich hatte mir vorher eigentlich nicht sehr viele Gedanken über den Ventoux gemacht – Gott, halt ein Berg mehr, ich bin schon so viele hoch. Aber es kamen dann doch einige Faktoren zusammen, um ihn zu einem "Berg des Leidens" zu machen: das hohe Tempo am Anfang, zu wenig getrunken und gegessen unterwegs, die Hitze, später der Wind...

Wie auch immer, ich bin schon besser bergauf gefahren. Stefan, der etwas früher losgefahren war, hole ich wider seine Erwartung kaum ein, fahre dabei die ganze Zeit subjektiv eigentlich zu schnell und habe gleichzeitig das Gefühl, kaum voranzukommen, wenn ich auch etliche Hobbyfahrer überhole. Immerhin holen wir einen weiteren "Konkurrenten" ein, aber ich denke ununterbrochen: "wenn das die nächsten 500 Kilometer so weitergeht..." und hoffe auf eine plötzliche Formverbesserung, wie ich sie im Training oft erlebt habe, meist bei 150 oder 200 km. Doch heute lässt die auf sich warten.

Heike fährt noch einmal mit dem Auto an uns vorbei, um Bilder zu schießen, aber es fällt mir schon schwer, locker auszusehen... Stefan sieht da deutlich entspannter aus. (Sooo dünn, wie es auf dem dritten Bild aussieht, sind meine Beinchen aber auch wieder nicht! Macht alles der Weitwinkel... Übrigens: Stefan ist der ohne Handschuhe und mit den gelben Socken und Reifen, rotem Sattel, mich erkennt man z. B. am Aerolenker und den Hochprofilfelgen)

Irgendwann sind wir oben, wo uns statt Hitze nun Kälte erwartet. Wolfgang Fasching und die zwei anderen, die ihm hier noch folgen konnten, hat eine Viertelstunde vor uns für den Aufstieg 1:20 Stunden gebraucht, wie wir später erfahren; wie lange es bei uns gedauert hat, weiss ich nicht. Für die berühmte Mondlandschaft mit Antenne haben wir keinen Blick, wir wollen nur möglichst schnell wieder runter ins Warme. Nachdem wir uns Armlinge übergestreift haben, stürzen wir uns in die Abfahrt, die eigentlich gut laufen könnte, würde mir nicht bei jeder Kurve der böige Wind fast den Lenker aus den Händen reissen. Danach wird die Landschaft wieder flacher, der Wind zum Glück weniger spürbar. An der nächsten Verpflegungsstelle in Sault treffen wir noch einmal Heike und Reni; diesmal fahre ich früher los, da Stefan sich bereits für die Nacht rüsten muss, während ich das meiste schon dabei, den Rest am Col de la Graille deponiert habe, den wir plangemäß gegen 22 Uhr erreichen sollen.

Sommet de Lure – die Nacht bricht herein

Zwei kleinere, aber recht schöne Pässe (Col de Macuegne und Col de la Pigière) von je rund 1000 m fahren wir eher gemütlich hoch, dann kommt die Auffahrt zum Col de la Graille, der mit 1670m angegeben ist; ein paar Kilometer weiter soll es dann gleich zum Montagne de Lure gehen, mit 1826m der zweithöchste Anstieg des Rennen. Weiterhin lässt meine Form zu wünschen übrig, ich fühle mich einfach nicht richtig gut. Dazu kommt, dass uns schon wieder das Wasser auszugehen droht. Zumindest haben wir bislang den Weg halbwegs komplikationslos gefunden. Wir wollen beim nächsten Brunnen anhalten, aber nach einem kleinen Dorf gibt es nur noch die schmale, völlig einsame Straße, die sich eher wie ein Wirtschaftsweg durch den dunkler werdenden, dichten Wald nach oben zieht. Wir kommen uns ziemlich verloren vor. Jetzt beginnt die Nacht, wir schalten zuerst die Rücklichter ein, dann das vordere Licht. Eigentlich fühlt man sich überhaupt nicht wie in einem Rennen, es ist ganz still, keine Spur von den Konkurrenten, auch hinter uns ist niemand zu sehen. Plötzlich, als ich schon anfange, zu zweifeln, ob wir überhaupt richtig sind, kommt ein Veranstaltungsauto von hinten angefahren: es ist der Holländer von "LeTourDirect", der Stefan vom Race Across America kennt. Er reicht uns eine Wasserflasche, wir halten kurz an, um die Trinkflaschen aufzufüllen, dann ist er wieder weg. Als ich Stefan allein weiterfahren lasse, um zu pinkeln, ist auch der sofort verschwunden, ich bin völlig allein mit mir selbst in der mittlerweile kompletten Dunkelheit.

Ich treffe Stefan erst wieder an der Verpflegungsstelle oben auf dem Pass, wo es mittlerweile bitter kalt ist: 6°. Unterwegs haben wir beide ein blinkend geparktes Auto am Straßenrand passiert; noch ein Platz gut gemacht. Eine Aufgabe? Mit durchfrorenen Fingern schlürfen wir (zu) heisse Suppe, die Helfer, die ein kleines Feuer in Gang halten, sehen uns mitleidig an. Gerade mal 250km sind geschafft. Ich suche mein hinterlegtes Päckchen, in dem ich meine Thermojacke vermute, und bin freudig überrascht: es finden sich auch Überschuhe und Windstopper-Handschuhe darin, was ich ganz vergessen hatte. Zusammen mit den Beinlingen sollte das reichen. Nach der relativ langen Rast fahren wir bibbernd runter, ich schalte erstmals meinen Zusatzscheinwerfer ein, der jetzt, mit an die Dunkelheit gewöhnten Augen, wie ein Flutlicht wirkt, vor allem auch gegenüber Stefans "Funzel". Ganz entgegen den Befürchtungen eines Mitkämpfers, der vor dem Start gewarnt hatte, die Abfahrt sei schwer und holprig, ist die Straße auf dieser Seite viel besser als bergauf, wir können mit dem starken Licht erstaunlich schnell die gut ausgebauten Serpentinen nehmen – macht richtig Spaß, wären da die nicht kalten Finger (natürlich habe ich versäumt, die Handschuhe überzuziehen, und mag deswegen nicht anhalten) und meine plötzliche Sorge um die Bremsgummis, die anfangen merkwürdige Geräusche zu machen. Schleift da etwa schon Metall auf Carbon? Schwierig festzustellen in der Nacht.

Endlich geht's "aufwärts"

Weiter und weiter geht's in die Tiefe, und immer mehr frage ich mich: verdammt, wann geht's denn endlich wieder rauf, zum Lure? Erst als wir fast unten sind, klärt mich Stefan auf, dass das bereits der Lure gewesen ist! Oben war wohl irgendwo auf dem Pass eine kurze Senke, die mir gar nicht aufgefallen ist: das war der Graille; die Verpflegungsstelle war dann schon auf dem Lure. Da hätte ich wohl mal genauer die Roadmap studieren sollen... Ich weiss nicht, liegt es an der unerwarteten guten Nachricht, dass jetzt erstmal kein Pass mehr kommt, die zwei höchsten Anstiege des ganzen Rennens damit bereits hinter uns liegen, oder an der langen Abfahrt, während der die müden Beine sich erholen konnten, jedenfalls merke ich, wie es mir zunehmend besser geht. Ich habe plötzlich wieder richtig Lust auf Geschwindigkeit, lege mich in der langen Ebene, die jetzt beginnt, ordentlich ins Zeug. Allerdings müssen wir jetzt höllisch aufpassen, immer den richtigen Weg zu erwischen. Mein LED-Lämpchen, das mir Reni an den Reissverschluss des Trikots gebastelt hat, erweist sich als sehr praktisch, um den auf dem Aero-Lenker montierten Plan zu lesen, nach und nach gelingt es mir – wenn die Straße nicht, wie leider so oft in Frankreich, allzu hoppelig ist – immer besser, während der Fahrt die Roadmap zu lesen und Abzweigungspunkte schon im voraus auszumachen, so dass ich dann an der entsprechenden Stelle meist ohne weiteres Nachlesen abbiegen kann. Leider klappt das nicht immer so gut, manchmal bleibt auch recht unklar, welches nun die richtige Straße ist, und erst nach mehrmaligem Vergleichen der Hinweisschilder mit Ortsnamen und Straßennummer mit dem Plan lässt sich der Weg entscheiden. Nur kurz vor dem vierten Verpflegungspunkt in Forcalquier bei knapp 300 km wird uns diese Arbeit abgenommen, als uns der Holländer mit seinem Kontrollfahrzeug für 2 Kilometer zur Station eskortiert und von hinten Licht gibt, an Kreuzungen voraus fährt, um den Weg zu zeigen.

Ärger und Tempoverschärfung

Die ganze Zeit hatte ich gehofft, endlich irgendeinen der 10 oder 12, die noch vor uns auf den Kontroll-Listen unterschrieben haben, einzuholen. Irgendwann müsste man doch mal ein Begleitfahrzeug im Dunkeln auftauchen sehen? Statt dessen passiert jetzt das Gegenteil: gerade, als wir nach Auffüllen der Flaschen und etwas Essen und Trinken losfahren wollen, kommt ein Auto angerauscht, dann ein Radfahrer. Er unterschreibt die Kontrollliste, steigt auf und fährt noch vor uns los. Und wir verplempern hier jedesmal 10 Minuten und mehr! Wir fahren hinterher und holen ihn schnell ein, er scheint auf sein Auto zu warten. Eine Weile bleibt er hinter uns, plötzlich schließt er auf und rügt uns auf englisch, wir führen verbotenermaßen Windschatten. Wir ärgern uns ziemlich: wir verlieren allein schon durch die Wegsucherei ständig Zeit, ganz zu schweigen vom Flaschenauffüllen und Nahrung besorgen, und er regt sich über die paar Minuten auf, die wir jeweils mal hintereinander gefahren sein mögen. Bergab müssen wir allein schon deswegen zusammenbleiben, weil Stefans Licht zu schwach ist, um allzuviel damit zu sehen – vor allem jetzt, wo uns die Autolichter von hinten zunehmend blenden. Denn die Straße ist wellig und führt teilweise durch enge Felsdurchbrüche, und dann ist das Autolicht schlagartig weg, und man sieht wegen der vorherigen Helligkeit plötzlich gar nichts mehr.

Mir wird das lästig, ich fühle mich verfolgt mit diesem Auto hinter mir, und als es wieder bergauf geht, setze ich mich zunehmend ab, in der Hoffnung, dass Stefan mitkommt. Diesmal scheint es ihm allerdings nicht mehr so gut zu gehen, es dauert eine ganze Weile, bis wir den Franzosen endgültig abgehängt haben. Aber von wie langer Dauer ist das? Ich habe überhaupt keine Lust, Platz um Platz an langsamere, aber durch Begleitautos bevorteilte Fahrer zu verlieren.

Probleme mit der Beleuchtung

Mittlerweile ist Mitternacht lange vorbei, auf den Straßen ist es völlig ruhig. Ich versuche mit dem Scheinwerfer hauszuhalten, da die Akkus nur für geschätzte 4 Stunden reichen, und benutze nach Möglichkeit nur das normale Diodenlicht; ohnehin sieht man auch ganz ohne Licht ganz gut, wenn auch der Vollmond leider hinter einem Wolkenschleier verborgen bleibt. Doch gegen 2 Uhr macht Stefans Beleuchtung schlapp. In dem gespenstisch hell erleuchteten Moustiers Saint Marie versuchen wir, die Batterien zu wechseln, aber aus irgendeinem Grund will die Lampe danach nicht. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Batterien anders einzulegen – Stefan hat es anscheinend vorher nie probiert – gebe ich ihm meine kleine Lampe ab und fahre selbst bis auf die Abfahrten ohne. Nach einem 7. und 8. kleineren Pass erreichen wir gegen 4 Uhr kurz nach einander La Palud, wo es eigentlich zu einer kleinen Rundstrecke, der Route des Crêtes, gehen sollte. An der Kontrollstation erfahren wir aber, dass die Strecke wegen eines Felsabgangs nicht gefahren werden kann und wir direkt weiter Richtung Le Point Sublime am Grand Canyon du Verdon sollen. Ich habe absolut nichts gegen 30 km weniger. Eine weitere gute Nachricht ist, dass nur noch 9 Fahrer vor uns unterschrieben haben und wir nach Aussage des Streckenpostens die ersten ohne Begleitfahrzeug sind. Stefan hat seine Zweitbeleuchtung inzwischen wieder funktionstüchtig gemacht, ich meine Gels eingesteckt – feste Riegel bekomme ich nicht mehr runter, im Prinzip ernähre ich mich fast nur noch flüssig – und wir beschließen, vorerst getrennt weiterzufahren, gerade, als der nur scheinbar abgehängte Franzose wieder an der Station auftaucht.

Der Grand Canyon du Verdon

Diesmal will ich den Verfolger endgültig loswerden, und da ich mich immer noch gut fühle, lege ich nochmals ein höheres Tempo vor. Allerdings bin ich wohl so überstürzt abgefahren, dass ich, wie ich unterwegs bemerke, meine zweite Trinkflasche in Palud vergessen habe, in der ich immer reines Wasser zum "Verdünnen" der Riegel und Gels habe. Die Straße windet sich die nächsten 60 Kilometer erst die nördliche, dann die südliche Seite um die bis zu 700m eingeschnittene Schlucht des Grand Canyon herum. Auf der ersten Hälfte kann man einige Kilometer entfernt auf der anderen Seite am Berg einige blinkende Lichter sehen: das sind wohl die Begleitfahrzeuge der Führenden! Ich bleibe weiter allein, und immer, wenn ich mich dabei ertappe, dass die Geschwindigkeit abnimmt, erinnere ich mich mit Gewalt an die vielen Verfolger hinter mir, die ich zwar nicht sehen kann, die aber nur zu schnell an mir vorbei sind, wenn ich nicht kontinuierlich schneller fahre als sie.

Am Point Sublime und der Brücke Pont du Soleils, wo man einen Seitenarm des Canyon überquert, vorbei geht es durch Trigance wieder bergauf und auf die andere Seite. Leider muss ich mich wohl in Trigance irgendwie verfahren haben, ohne es zu bemerken, wie sich später herausstellt. Als ich nach dem Ort oben auf einer Hochebene ankomme, steht plötzlich ein blinkendes Auto vor mir. Ein Radfahrer lädt gerade sein Rad ein – offenbar eine weitere Aufgabe. Ohne mir weitere Gedanken darüber zu machen, halte ich an und bitte um eine Flasche mit Wasser. Die Begleiter sind nett, sorgen sich noch um mich, wollen mir Elektrolytgetränk geben, aber ich brauche nur Wasser. Ich bedanke mich und fahre weiter. Das Auto folgt mir später noch eine Weile, um mir zu leuchten; eine nette Geste, aber ich brauche das eigentlich nicht, zumal es anfängt zu dämmern; ich winke sie weiter und verabschiede mich.

Erst abends beim gemeinsamen Abschlussessen des Rennens wird klar, dass das eben die Franzosen waren, über die ich mich seit 100 Kilometern geärgert hatte. Recht fair, wenn man an die vorangegangenen Diskussionen denkt. Vielleicht haben sie mich aber auch ebensowenig erkannt wie ich sie. Nur, wie waren die an mir vorbeigekommen, ohne dass ich sie gesehen hatte? Zumal ich mich immer wieder schon unten vergewissert hatte, dass keine Autolichter hinter mir waren? Angehalten und pausiert hatte ich nicht...

Aber das weiss ich alles noch nicht. Von knapp 1000m geht es nun zur Brücke von Artuby auf 625, die sich fast 200m hoch über den Canyon spannt und gerade so im Dämmerlicht zu erkennen ist, dann folgt ein langer Aufstieg die südliche Seite hinauf bis zum Corniche Sublime auf 1200m. Leider ist die Hochphase bei mir schon wieder vorbei. Mehrmals halt ich einfach an, um mich zu recken oder etwas zu essen, und wundere mich über die vielen Pinkelpausen – trinke ich vielleicht zu viel? Wo kommt das ganze Wasser bloß her?

Es wird Tag!

Endlich wird es richtig hell, ich kann das Licht ausschalten. Durch das menschenleere Naturschutzgebiet an den Steilhängen der Schlucht geht es stetig bergauf, die Nachtigallen, die die ganze Nacht zu hören waren, werden von Amseln und anderen Tagvögeln abgelöst. Ein, zwei Mal halte ich an, um einen vorsichtigen Blick in den Abgrund zu werfen, und verliere das Rennen ein bißchen aus den Augen. Die Abfahrt begehe ich langsamer als in der Nacht, mir fehlt die rechte Motivation, da ich seit Stunden keine Menschenseele gesehen oder gehört habe. Und wer würde mich wohl finden, wenn ich über eine dieser nur wadenhohen Steinmäuerchen als Begrenzung fliegen würde?

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Nach rund 430 km ist die sechste Verpflegungsstelle in Aiguines erreicht, und hier holt mich auch Stefan wieder ein. Es ist bunkern angesagt, denn nun erwartet uns die längste Strecke ohne weitere Verpflegung: 120 km bis zum Côte de Sainte Anne mit seinen 21%. Ich trinke mein Energiegesöff und stecke mir die doppelte Menge Gels ein, die ich extra hier zurückgelegt habe; dafür können wir unsere Akkus und Lichter sowie die warmen Klamotten jetzt abgeben und endlich wieder mit kurzen Sachen fahren, wenn auch zunächst noch mit Windjacke.

Tempobolzen am Morgen

Bald erwachen meine Geister wieder, vor allem, als hinter Aups, wo wir uns kurz verfahren, erneut ein Verfolger auftaucht, ein Schweizer diesmal. Eine Weile fahren wir in einigem Abstand zusammen, aber wieder stört mich das Brummen des Autos hinter mir, und ich fürchte, einen Platz zu verlieren, wenn der "mitgezogene" Schweizer womöglich wegen seines Begleitfahrzeugs an der nächsten Kontrollstelle an uns vorbeigeht. Also lege ich mich auf den Aero-Lenker und fahre einige Zeit deutlich schneller, verliere damit aber auch Stefan wieder. Die Strecke ist jetzt nur noch "wellig", die kurzen Hügel machen mir nicht viel aus, und ich freue mich darauf, bald, nach nur noch 150 km, endlich im Ziel zu sein. Es läuft richtig gut, immer wieder fahre ich an morgendlichen Rennradgruppen vorbei, die wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, der einsame Radler in Zeitfahrhaltung sei schon gut 500 km unterwegs. Allerdings wird die Streckenführung zunehmend schwieriger. Bei Peyrolles verliere ich vor lauter Kreiseln und Richtungshinweisen im Kilometerabstand völlig den Überblick auf der Roadmap und orientiere mich nur noch an der Straßenausschilderung gen "la Roque d'Anthéron", komme dabei aber wohl auf der falschen Straße dort hinein, denn den Weg nach Lambesc, der dort ausgeschrieben sein soll und zum berüchtigten Sainte Anne-Pass führt, finde ich nicht. Erst nachdem ich schon wieder fast aus dem Ort herausgefahren bin, weisen mir zwei Radfahrer den Weg (der durch den Ort zurück führt), schütteln aber den Kopf über das Vorhaben, dort mit dem Rennrad hochzufahren.

21% am Côte de Sainte Anne

Am Fuße des Cols, der aus einem zunächst unscheinbaren kleinen Sträßchen im Wald besteht, sitzt Heike und liest. Ich bemerke sie erst, als sie mir nachruft, ob ich ein Croissant wolle, aber ich habe jetzt nur noch einen Gedanken im Kopf: so schnell wie möglich "nach Hause"! Nach meiner Roadmap müsste der Pass bald kommen, noch steigt die Straße aber kaum an. Dann sieht man hinter einer Kurve urplötzlich eine Asphaltmauer, die eher nach einer Skating-Pipe als einer Straße aussieht. Irgendwie kurbele ich das Stück hoch, es kommt wieder eine Kurve, und ich hoffe, dass das die 21 % – gefühlte 50 – schon gewesen sind. Aber dahinter geht es ganz genauso weiter. Und weiter. Und weiter. Trotz 34/27 kann ich weder im Stehen noch im Sitzen richtig hochfahren; beides geht jeweils einige Kurbelumdrehungen, dann muss ich wechseln, und wieder zurück. Stefan erzählt später, dass er mit seiner Mörderübersetzung von 39/25 komplett sitzend hochgefahren ist – mit der hauptsächlichen Schwierigkeit, das Vorderrad auf der Straße zu halten!

Schließlich am höchsten Punkt die zweitletzte Versorgungsstation. Nur noch 8 Namen stehen vor meinem auf der Liste. Ich lasse alles überflüssige Gepäck wie Armlinge und Riegel, die ich doch nicht runterbekomme, an der Station zurück und mache mich auf zum "Endspurt".

Noch 80 km

Zwei kleinere Hügel sind noch zu überwinden, bevor es endgültig nach Saint Remy zurück geht. Größere Probleme aber bereitet es, den Weg überhaupt zu finden, was wohl teilweise an den Versuchen der Streckenplaner liegt, stärker befahrene Straßen und Ortschaften zu meiden, teilweise an der doch deutlich nachlassenden Konzentration. Die Kilometerangaben in der Roadmap umzurechnen á la "32 Kilometer Abzug wegen der Route des Crêtes, dann Minus 2% wegen Tachoabweichung" habe ich längst aufgegeben. In Cazan (Motivationsschub: 3 Hobbyradler am Anstieg trotz deren "Widerstand" deutlich abgehängt) finde ich die Straße Richtung Alleins zum Côte de Vernègues nicht; hier soll ich erst D22, dann D22C, D22B und schließlich D22D fahren??? Ich frage mehrere Passanten nach Alleins, keiner scheint den Ort zu kennen, der etwa 3 km entfernt sein muss. Entnervt fahre ich aufs Geradewohl in irgendeine Richtung, als die 3 zuvor überholten Rennradler ankommen und mir die Richtung bestätigen (Motivation wieder im Keller).

An der Anhöhe befindet sich die Straße im Bau, wie Patrick bei der Fahrerbesprechung angekündigt hatte; ich riskiere einen Platten und fahre vorsichtig durch den Schotter, es wird schon gutgehen. Es geht gut.

Panik!

Dafür übersehe ich die letzte Kontrollstation in Eyguières bei der Einfahrt. Zunächst denke ich mir nicht viel dabei, als ich im Ortszentrum keine bemerke: war nicht die Rede davon, dass eine Kontrolle nach außerhalb verlegt werden sollte? Aber welche? Wieso habe ich das nicht im Plan vermerkt? Als aber bis zum nächsten Ort immer noch keine Kontrollstation aufgetaucht ist, wird mir langsam klar, dass ich in Eyraguès, als ich kurz eine Einbahnstraße gegen die Richtung befuhr, an der Kontrolle vorbeigerauscht sein muss. Was tun? Umdrehen? Nur das nicht! Mir ist jetzt alles egal, wenn ich nur endlich ankomme; mir tut der Hintern doch langsam wirklich weh.

Nach der 13. und letzten Steigung bei Roquemartine führt die Strecke fast völlig flach um Saint Remy herum zurück. Ich hoffe die ganze Zeit, dass irgendein Veranstaltungsfahrzeug vorbeikommen möge, um zu bestätigen, dass ich keine Abkürzung nach Saint Remy genommen habe, aber es lässt sich niemand blicken. Unterwegs ein kleiner Schreck, als mein Puls- und Höhenmesser plötzlich piepst und sich dann abstellt. Aha, mehr als 24 Stunden mag er wohl nicht messen. Damit bin ich jetzt genau einen Tag unterwegs; die Höhenmeter stehen auf 8900, verteilt auf 32 (!) Anstiege. Die letzten 50m oder so kann ich mir auch so dazudenken.

Endlich im Ziel

Noch eine letzte Verwirrung in Eyragues kurz vor dem Ziel (die kleine D5f ist nicht wie im Plan angegeben nach Remy ausgeschildert, sondern nur nach Maillane); nur wegen der Straßennummer auf dem Schild finde ich glücklicherweise den richtigen Weg, auf dem wir auch zu Anfang des Rennens aus der Stadt herausgefahren sind. Dann kurz nach Mittag die glorreiche, umjubelte Einfahrt in den Zielbereich, die sich leider nur in meiner Phantasie abspielt. Keiner scheint mich zu bemerken, als ich von der Straße ins fast menschenleere Gelände von La Fabrique einbiege. Bin ich schon disqualifiziert, weil am letzten Kontrollpunkt nicht erschienen? Ich rufe panisch herum, was denn los ist. Ein mir unbekannter Franzose murmelt etwas von "une catastrophe"; böses ahnend suche ich Patrick.

Aber es ist doch alles okay. Meine Zeit ist genommen, ich bin Siebter, heisst es. Oder doch Achter? In Eyguières hat mich ein Streckenposten gesehen und meine Durchfahrt gefunkt. Dort herrschte zu der Zeit große Bestürzung, aber nicht wegen mir, sondern wegen des Schweizers, mit dem Stefan nach meiner "Flucht" eine Weile zusammen gefahren ist: der ist genau dort zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Anscheinend hat er schon in der Nacht Durchfall gehabt und sich trotzdem so lange weitergekämpft!



Stefan kommt eine Stunde später an, nicht eben gut gelaunt wegen der Zusatzkilometer, die er durch die falsche Auszeichnung in Eyragues zurückgelegt hat und die ihn einen weiteren Platz nach hinten haben rücken lassen.

Beim Abschiedsessen am Abend, nach einem kurzen Schläfchen in der Pension meinerseits, erfahren wir dann, dass wir nicht einmal, wie die Streckenposten uns immer versichert hatten, die Schnellsten ohne Begleitfahrzeuge geworden sind. Direkt vor mir, mit einer Stunde Vorsprung, kam eine Vierergruppe um Dominique Briand, eines der echten Urgesteine der Langstrecke, ins Ziel, und in der war neben den Franzosen Pechallat und Rico auch Dieter Kleiser, ebenfalls ohne Begleitung.

Sellerie, wie der Franzose sagt.

Wolfgang Fasching ist, wie eigentlich auch alle erwartet hatten, noch über zwei Stunden schneller gewesen. Zwischen ihm und den Vieren vor mir lagen nur noch Daniel Wyss aus der Schweiz und Yves Chizelle aus Frankreich. Valentin Zeller dagegen hat mitten in der Nacht aufgegeben, weil sein Begleitfahrzeug ausgefallen ist (was mir nun kein Mitleid abringt... Hatten Stefan, Dieter Kleiser oder ich denn eins? So ein Weichei J ). Von den 47 Einzelstartern und 3 Zweierteams sind bis zum späten Abend überhaupt nur 24 angekommen, der Rest ist irgendwann ins Auto gestiegen (was den Fahrern mit Begleitung naturgemäß wohl leichter fiel).

Erholung und Ausflüge

Was gibt's noch zu berichten aus Saint Remy? Die 4 Kilometer zu la Fabrique legte ich 2x2 mal zu Fuß zurück, da mein armer Hintern jetzt wirklich erst einmal Schonung brauchte. Es ist komisch, aber noch 40 km vor dem Ziel ging es mir so gut, dass ich auch ohne weiteres noch 200 km hätte dranhängen können, aber sobald man sich dann mental auf's Ende der Strecke einstellt, merkt man zunehmend, dass man das auch wirklich langsam braucht. Und danach hatte ich für's erste keinerlei Lust auf Radfahren mehr. Zwei Tage später sieht es schon wieder anders aus. Den Montag habe ich Reni noch alleine einen Ausflug in die Alpilles machen lassen, selbst nur rumgelegen, gegessen, das Rad überholt. Reni beschwerte sich danach über den üblen Wind, doppelt schlimm, da ich als Windschatten-Verantwortlicher nicht dabei war. Stimmt, sollte es hier nicht immer winden? Komischerweise habe ich beim Rennen ausser am Ventoux kaum was davon gemerkt. Wir hatten wohl Glück. Am Dienstag komme ich dann schon mit zu einer Mini-Ausfahrt nach Les Baux, leider ohne Fotoapparat: sehr malerisch. Ich kann mich angesichts der vielen Touristenbuden nicht zurückhalten und erstehe 2 Seifen und 1 Päckchen Kräuter der Provence. Aber der Wind ist schon wieder etwas erträglicher. Reni hat für ihre Solotour wirklich den schlechtesten Tag erwischt, seit wir hier sind.

Dann geht's wieder ans Packen. Ich hatte erwartet, dass die Rückfahrt einfacher sein müsste, da dann ein Großteil der Riegel & Gels vertilgt sein würde; aber erstens habe ich kaum Riegel gegessen, und zweitens sind dafür jetzt etliche Unterlagen, ein Regenponcho und ein Trikot vom Veranstalter sowie provencalische Seife dazugekommen... Die 3 Flaschen Wein und die Tasche, die jeder erhalten hat, sind wir immerhin an Heike losgeworden als Dank für Ihre "Fahrdienste", die sie gern mitgenommen hat.

Die Rückfahrt

Es geht aufwärts...

Am ersten Tag fahren Reni und ich größtenteils auf einigen Teilstücken des Rennens gen Nordosten. Die Gorges de la Nesque, die wir in umgekehrter Richtung fahren, sind wirklich fantastisch. Beim Rennen habe ich kaum was davon mitbekommen, zumal wir da den schönsten Teil bergab gebrettert sind. Der Ventoux bleibt lange im Blick, aber weder ich noch Reni (der vom Auto-Mitfahren dort etwas schlecht geworden ist) haben besonders gute Erinnerungen an ihn, so dass uns der weisse Kegel nicht zum Hochfahren reizt.

Auch der Col de la Macuegne macht mit Gepäck durchaus Spaß. Während ich den Pass hochklettere, erinnere ich mich wieder genau an den betreffenden Abschnitt des Rennens. Hier geht es mir schon wieder ganz gut – eigentlich bemerke ich kaum noch einen Unterschied zu sonst. Sieht aus, als ob die 600km diesmal völlig spurlos an mir vorüber gegangen wären. Wir finden rechtzeitig eine Herberge, etwas ab von der Richtung, die wir eigentlich fahren wollten, am Anstieg des schnuckeligen Col St. Jean hinter Sederon. Es gibt hier so viele Straßen, dass man sich kaum entscheiden kann, welche man nimmt; überall sind kurvenreiche kleine Cols mit nie gehörten Namen eingezeichnet.

Der zweite Tag wird genauso schön, und nach den 128km und 1640 Höhenmetern vom Mittwoch stehen am Ende des Donnerstags respektable 140km und über 2000m zu Buche. Zuerst der kleine Col de St. Jean (1158m), wo wir probehalber die Räder tauschen (Reni sind meine Gänge zu groß, mir ihr Rad zu kurz und wacklig – also wieder zurück) und bei dessen Abfahrt mir ein selbstmörderisches Insekt seinen Stachel in den Hals rammt, den mir die gute Reni vorsichtig wieder entfernt. Wir beschließen, mal Tempo zu machen und die große "rote" Nationalstraße nach Norden zu nehmen. Zuvor will ich aber einen Teil des lästigen Gepäcks an einer Poststation nach Hause schicken, offenbar zum Verdruss der recht unfreundlichen Postbeamtin, die uns zuerst in die nächste Stadt schicken will, da sie keine Pakete für Auslandsverschickung habe. Mithilfe eines Kartons vom Obstladen und (knausrig wenig) Klebeband von der Beamtin werden Helm, Jacken, Gels und Seifen dann aber doch halbwegs zufriedenstellend verpackt auf die Reise geschickt – 3 Kilo und vor allem viel Volumen weniger für die Packtaschen.

Auf der N75 ist zum ersten Mal richtig viel Verkehr, aber die Berge links und rechts und die Tatsache, dass die Auto- und LKW-Fahrer i.a. mit reichlichem Abstand überholen, lässt die Strecke trotzdem erträglich werden. Irgendwann nervt allerdings, dass die Strasse von Eyguians bis zum Col de la Croix Haute (1379m) fast 50 km lang mit nur 1-2% ansteigt; erst kurz vor dem Pass ist die Steigung etwas größer, so dass man zur Abwechslung mal in den Wiegetritt gehen kann. Mittlerweile ist es auch 30-34° heiss, die breite Strasse ist völlig schattenlos, und die Hitze macht mir zu schaffen – vielleicht auch eine Folge des Bienenstichs?

Wir biegen hinter dem Pass auf kleinere Straßen ab, die etwas mehr Schatten versprechen. Tatsächlich ist die Landschaft gleich wie ausgewechselt, kleinformatig, eher hügelig, wie im Mittelgebirge, obwohl die ersten 2000er und mehr schon nah sind. Reni besteht auf einer Mittagspause in Mens, während ich lieber durchfahren und erst abends essen würde. Im Gegensatz zu der Gruppe Rennradler im Café gegenüber trinken wir statt Bier aber nur Wasser aus dem Brunnen. Hinter dem kaum spürbaren "Col" Accarias windet sich die Straße abenteuerlich auf und ab, über die beeindruckende Brücke bei Ponsonnas durch die Schlucht des Drac (Bild folgt), schließlich folgt der Anstieg zum Col d'Oron, wo wir auf halber Höhe ein Gite (Herberge) finden.

Die "Herbergseltern" bereiten uns noch schnell extra eine Mahlzeit: Nudeln mit Pilzsoße (die ersten Nudeln auf der ganzen Reise!), Rotwein gibt's selbstverständlich auch dazu, und ich lange gern zu.

... und dann abwärts

Aber schon bald wird klar, dass irgendetwas mit der Kombination aus Hitze, Bienenstich, Brunnenwasser, Pilzen und Wein nicht in Ordnung war: ich wache nach 1, 2 Stunden unruhigem Schlaf vor Bauchweh wieder auf, wälze mich herum, dann kommt Durchfall hinzu, und am frühen Morgen endlich auch Brechen. Da liege ich dann kraftlos im Bad und rufe schwach nach Reni, bis die mich hört und quasi zurück ins Bett trägt. An Weiterfahren ist am Morgen nicht zu denken, ich bin noch immer völlig schlapp, kann nichts essen und habe keinerlei Schlaf gehabt. Wir verschieben die Entscheidung auf den Nachmittag, die Besitzerin der Gite bleibt eigens zuhause. Um halb 3 entschließen wir uns, es zu versuchen: wir müssen nach Hause, spätestens bis zum Sonntag, wo wir abends Karten für die Oper Frankfurt haben, und Zug oder Bus gibt es hier nicht.

Der "Aufstieg" zum Col d'Oron wird mir sicherlich als der quälend langsamste der letzten 10 Jahre in Erinnerung bleiben. Andere Gänge als den kleinsten, 34/27, brauchte ich erst gar nicht zu probieren, trotzdem mussten immer wieder Pausen eingelegt werden. Wäre der Pass steiler als die läppischen 4 oder 5 % gewesen, hätte ich wohl schieben müssen. Reni behauptete zwar, sie würde alleine auch nicht schneller fahren, aber so ganz glauben konnte ich das nicht. Oben legte ich mich in den Schatten eines Gasthauses, wo mich der Haushund neugierig betrachtete. Eine blöde Tageszeit, um einen Pass hochzufahren! Essen konnte ich nach wie vor nichts, aber ein wenig Maltodextrin-Pulver war mir vom Rennen verblieben, mit dem ich mich immerhin etwas "flüssig" ernähren konnte.

Es folgten noch die Abfahrt nach Bourg d'Oisans, wo die Tour de France so manches Jahr zu Alpes d'Huez startet, und die lange, heisse N91 nach Grenoble, das uns mit Gegenwind, holprigen Radwegen und Chemiegestank erwartete, immerhin aber auch einem Hotelzimmer für 50 €, nach weiteren längeren Erholungspausen u.a. im Park von Vizille, mitleidig betrachtet von Einheimischen in einem Café. Trotz insgesamt 700 m Gefälle auf der Strecke nur ein 23er Schnitt, aber Temperaturen bis 36°... Das war's!

Besser ging's (leider vorübergehend) dann erst in Deutschland wieder, wo's zunächst auch nicht viel kälter war. Der Magen brauchte wohl noch eine Weile. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hier zum Schluss der recht magere (französische) Bericht des Veranstalters
Cosmas Lang